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Für Ärzte

 
 

Übersicht und Allgemeines

Die folgenden Sektionen sind als allgemeine und einfache Übersicht gedacht für Ärzte, für welche die Erkrankung Myalgische Enzephalomyelopathie (-itis) / Chronic Fatigue Syndrome (ICD-10: 93.3) neu oder weitgehend neu ist. Zur Vereinfachung verzichteten wir hier auf zahlreiche Quellenangaben und beziehen uns auf eine kleine Auswahl von grossen Quellen – diese Arbeiten sind auch zuunterst zum Downloaden aufgeführt oder verlinkt.  

Das Thema ME/CFS ist weiterhin sehr explorativ und die Forschungslage leider eher spärlich. Das Krankheitsbild ist klinisch zwar gut definierbar und erkennbar, es existieren jedoch keine ausreichend validierten Vorgehensschemata – dies wird sich in den nächsten Jahren vermutlich ändern.

Als gemeinnütziger Verein ersetzen wir nicht die Angestellten des Gesundheitswesens, dürfen das ärztliche Handeln nicht bestimmen, sowie zu keinen explizit erläuterten Therapien instruieren.

Wir erhoffen uns jedoch, die Ärzteschaft animieren zu können – die Lage ist prekär und die ME/CFS-Betroffenen haben für ihr Leiden nahezu keine Ansprechpersonen unter den Gesundheitsprofis.

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"ME/CFS ist eine komplexe und bislang wenig erforschte Erkrankung. Wir bräuchten Föderprogramme für die Erforschung der Krankheheitsmechanismen und für klinische Studien (...), Spezialtarife und Disease Management Programme (...), Unterstützung für die Fortbildung und Beratung von Ärzten."

Prof. Carmen Scheibenbogen

Immunologin aus der Charité Universitätsmedizin Berlin, DE


Aus unserer Sicht- bis weitere Entwicklungen und Validierungen auf dem Gebiet von ME/CFS stattfinden - bestehen für Ärzte die folgenden Aufgaben:

 

1.
Anerkennung von ME/CFS als seriöse, körperliche Erkrankung

2.
Richtige und frühzeitige Identifizierung der Betroffenen

3.
Erkennung und Behandlung der Ko-Morbiditäten

4.
Unterstützung der Patienten bei der Symptomkontrolle und Erstellung des individuellen Aktionsplans

5.
Bereitschaft, sich für die Kranken einzusetzen , v.A. durch nicht-stigmatisierende Gutachten, Vermittlung der externen Unterstützung und Weiterleitung ihres Wissens an ihre Berufskollegen

 

 
 

Definiton und Subtypisierung

Myalgische Encephalomyelopathie(-itis) / Chronic Fatigue Syndrome (ICD-10: G93.3) ist eine vorwiegend metabolo-immunologische Erkrankung mit multisystemischen Auswirkungen. Vereinfacht ausgedrückt handelt es sich um eine klinisch charakteristische, erworbene Belastungsintoleranz. Die früher unproblematischen Alltagsaktivitäten (körperlich, geistig, emotional) führen neu zu langandauernden Symptomzunahmen, welche wiederum in einen markanten Verlust der Lebensqualität und Reduktion der Alltagsaktivität münden. Das Symptombild kann sehr individuell sein – die Erfassung ist dementsprechend oft sehr frustrierend.

Zu den Kernmetamerkmalen aller Kranken gehören:

 
  • Verlust der Alltagsfunktionalität infolge der Symptomlast

  • Postexertionelle Malaise (PEM)

  • Unerholsamer Schlaf

  • Orthostatische Intoleranz (OI)

  • Verschlechterung der kognitiven Leistungen  

 

Die Forschung und die klinischen Beobachtungen liefern uns genügend Informationen damit diverse Subtypen von ME/CFS angenommen werden können – einige sind bereits jetzt gut klassifizierbar und/oder heilbar, es fehlt jedoch an Spezialisten auf diesem Gebiet sowie an validierten Vorgehensschemata. Auch die bei manchen Subtypen geeigneten, heilenden Verfahren bleiben noch experimentell und schwer zugänglich.

Unabhängig davon um was für einen Subtyp es sich individuell handeln könnte, ME/CFS ist als eine körperliche Erkrankung zu betrachten – es sind auch messbare und charakteristische Korrelate der Beschwerden auffindbar, obwohl man hierfür grösstenteils speziell gewichtete Untersuchungsprotokolle einsetzen muss. Die Spezifität solcher Befunde für ME/CFS liegt aber weiterhin in derer Kombinationen und Zusammenhang mit dem klinischen Bild und nicht im Vorliegen eines ganz bestimmten pathologischen Wertes.    

 
 

 Ursachen und Risikofaktoren

Hinter manchen ME/CFS-Fällen stecken frustrane Manifestationen von bereits gut charakterisierbaren Leiden («sekundäres ME/CFS»). Bei den meisten bleibt die Ätiopathogenese jedoch unklar. Wir wissen, dass sich mehrere präzipitierende Faktoren ansammeln können, bevor einer davon als Trigger/Auslöser «das Fass zum Überlaufen bringt».


 

Zu den validierten präzipitierenden Faktoren gehören:

Diverse Infektionen, v.a.: 

  • der unteren und der oberen Atemwege

  • des gastrointestinalen Traktes 

  • des urogenitalen Traktes

  • der Haut/Schleimhäute

  • des zentralen Nervensystems

Belastende Lebenssituationen, v.a.

  • diverse Traumata (sowohl körperlich als auch psychosozial

    - z.B.: Unfälle, Operationen, Verluste)

  • intensive Lebensführung oder -umstellung (z.B.: Leistungssport, Reisen, Arbeit)

  • Unterversorgung (z.B.: Schlafmangel, Unzureichende Ernährung mit Gewichtsverlust)

  • hormonelle Umstellungen (z.B. Schwangerschaft, Geburt, Adoleszenz, Andro-/Menopause)

  • toxische Expositionen (z.B. Orgnophosphate, Quecksilber, Ciguatera-Toxin)

 

Die Infekte sind die am häufigsten berichteten Auslöser/Triggers (ca. 40% der Fälle). Interessanterweise schreibt man denen in den Akutphasen meistens keine grossen Bedeutungen zu (üblicherweise bekannt als selbstheilend/selbstlimitierend oder gut beherrschbar z.B. dank Antibiotika). Das Erregerspekturm ist gross, auffallend handelt es sich grösstenteils um die intrazellulär persistierenden und bekanntlich immunmodulierenden Pathogene (z.B. Herpesviren, Betacoronaviren, Enteroviren, Coxiellen, Borrelien, Lues oder Chlamydien).     

Bisher wurden keine «klassischen» Risikofaktoren für die Entwicklung von ME/CFS eindeutig bestätigt (bis auf das weibliche Geschlecht und Alterspeaks wie vorher erwähnt), frühe Vernachlässigung der Erkrankung (Tendenz zum schweren Verlauf), sowie positive Familienanamnese für ME/CFS bei der Mutter (ebenfalls Tendenz zum schweren Verlauf).

Die Ethnie, die Geographie und der sozio-ökonomische Status schienen bisher keine grosse Rolle zu spielen – es fehlt jedoch eindeutig an Informationen aus den «Zweit- und Drittweltländern».

Es werden diverse Risikofaktoren für die Entstehung von ME/CFS postuliert - v.A. genetische aber auch Vorbestehende, psychosoziale Belastungen oder Traumata. Eine geschwächte Resilienz und erhöhte Vulnerabilität sowie mangelnde soziale Unterstützung kann womöglich dazu beitragen, dass sich ME/CFS entwickelt (Stressachsen-Überaktivierung/erhöhter Sympathikustonus). Eine statistische Belegung dieser Vermutungen liegt aber nicht vor.  

 

 Weitere Wichtige Zahlen

0.2 -0.4%

Prävalenz

Die meta-analytisch vermittelte Prävalenz beträgt 0.2 bis 0.4% mit Inzidenzpeaks in der Adoleszenz (ca. 11 – 14 LJ) sowie im mittleren Erwachsenenalter (ca. 30 - 45 LJ).

 

25%

dauerhaft bettlägerig

60 bis 80% der Betroffenen sind weiblich. Die Spontanerholungsrate beträgt unter 10%. Nur ca. 40% der Betroffenen erhalten eine vollständige oder partielle Arbeitsfähigkeit. Ca. 25% werden im Laufe der Erkrankung länger oder dauerhaft bettlägerig.

 
 

51 Mrd.

Kosten jährlich in den USA

Die Erkrankung wird weitgehend verpasst und verursacht immense Kosten (direkt und indirekt: in den USA bis 51 Milliarden USD jährlich; übertragen auf die Schweiz, würde dies einem dreistelligen Millionenbetrag in CHF entsprechen).

Diagnosestellung

Es gibt keine validierten Tests zur Bestätigung oder Ausschluss von ME/CFS – einige vielversprechende Kandidaten werden aber überprüft (z.B. Profile von gewissen Metaboliten oder die elektrische Stressreaktivität der weissen Blutkörperchen).

Das Diagnostizieren von ME/CFS erfolgt im Rahmen der gezielten Anamnese. Die Feststellung von ME/CFS erübrigt aber nicht die weiteren differentialdiagnostischen Schritte - die körperlichen Untersuchungen sowie die weiteren Abklärungen dienen der Identifikation von Ko-Morbiditäten sowie eventuellen Primärerkrankungen, welche sich frustran als ME/CFS manifestieren können.

Es stehen mehrere diagnostische Kriteriensets für ME/CFS zur Verfügung. Zum allgemeinen Screening und für Neueinsteiger werden diejenigen nach Institute of Medicine aus dem Jahr 2015 empfohlen – sie liefern die einfachste Handhabung, und wurden anhand der bisher robustesten Metanalyse von über 9000 Quellen konzipiert: 


Die Diagnose ME/CFS kann gestellt werden, wenn folgende Merkmale vorhanden sind

Alle 3 Hauptsymptome:

  • verminderte Alltagsfunktionalität

  • postexertionelle Malaise

  • unerholsamer Schlaf

Mindestens 1 der 2 Nebensymptomen:

  • orthostatische Intoleranz  

  • kognitive Einbusse

Beschwerdedauer:

  • 6 Monaten

  • oder 3 Monaten bei Kindern und Jugendlichen


 

Die üblichen differentialdiagnostischen Massnahmen im Bezug auf die berichteten Symptome und erhobenen Befunde sollen ungehindert stattfinden – Erfüllung der ME/CFS-Kriterien erübrigt keinesfalls die weiteren Abklärungen. Diese decken nicht nur behandlungsbedürftige Ko-Mobiditäten auf, sie führen auch in einigen Fällen zur Identifikation von gut verstandenen Primärleiden (= ME/CFS-Bild als sekundäre Manifestation von anderen Erkrankungen).

Bei den meisten ME/CFS-Fällen wird man im Rahmen der Standardabklärungen aber keine wegweisenden Befunde erheben können – die Resultate zeigen sich entweder normal oder unspezifisch. Dies war einer der Hauptgründe, wieso das Leiden so lange verkannt und «überpsychologisiert» wurde.

Werden die IOM-Krtierien 2015 gemäss dem dort aufgeführten diagnostischen Schema erfüllt, ist ME/CFS (ICD-10: 93.3) in der Diagnoseliste separat aufzuführen. Die Haupt- und Nebensymptome sind ebenfalls zu protokollieren.

Bei genügender Sattelfestigkeit auf dem Gebiet von ME/CFS sollten formal auch die weiteren Kriteriensets überprüft werden (z.B. ICC 2011, CCC 2003/2009, Fukuda 1994, Oxford 1990/1991 oder Holmes 1988).

Im Idealfall sollte auch eine unabhängige Zuweisung zu einem ME/CFS-versierten Spezialisten erfolgen – dies gestaltet sich aber nicht nur in der Schweiz als besonders schwierig.

Die abenteuerlichen Kliniker können es jedoch versuchen, diverse Studienbefunde zu reproduzieren (z.B. zur besseren Belegung des Verlustes an Alltagsfunktionalität bei ev. Antrag für Invalidenversicherung). Durch gezielte Erweiterung der gängigen Untersuchungsprotokolle können erstaunliche Pathologien zum Vorschein kommen (z.B. in: Hirn-SPECTs, fMRIs, Spiroergometrien, Polysomnographien, immunologischen und endokrinologischen Evaluationen, Kipptisch-Untersuchungen und neuropsychologischen Tests). Ausreichend validierte Empfehlungen und Vorgehen hierfür gibt es aber nicht. Auch die Interpretation der pathologischen Befunde gestaltet sich als keine leichte Aufgabe angesichts des noch explorativen Charakters solcher Ansätze.

Mit Abstand am häufigsten (bei ca. 90% der Betroffenen) und am einfachsten zu erfassen sind diverse Störungen der Durchblutung – in standardisierten Orthostasen-Tests (z.B. Shellong- oder Kipptisch-Untersuchung) kann v.A. die posturale Tachykardie und/oder die posturale arterielle Hypotonie nachgewiesen werden.    

 
 

Welche Tests machen Sinn? 

Die Erfüllung der ME/CFS-Kriterien erübrigt nicht die Zusatzabklärungen – diese sollten erfolgen gemäss den Regeln der medizinischen Kunst und dienen der Abdeckung von denkbaren Primärleiden und Ko-Morbiditäten. Die Wahl der notwendigen Zusatzabklärungen bleibt dem jeweils zugezogenen Kliniker überlassen und richtet sich jeweils an das individuelle Beschwerdebild des Evaluierten.

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Es gibt leider noch keine validierten, expliziten Abklärungsrichtlinien für ME/CFS. Die bisherigen Abhandlungen über ME/CFS beinhalten aber zahlreiche Vorschläge, und gewisse ME/CFS-assoziierten Befunde können durch die mehr abenteuerlichen Kliniker erfolgreich reproduziert werden (z.B. zwecks Erhärtung der Diagnose oder Nachweises eines funktionellen Leistungsknicks für soziale oder rechtliche Anträge).

 

 

Von unseren Vereinsmitgliedern hören wir, dass v.A. die folgenden, standardisierten Routineuntersuchungen in Vergessenheit zu geraten scheinen, obwohl sie von grossem Nutzen sein könnten:

  • Orthostasten-Tests (z.B. «Shellong» oder Kipptisch-Untersuchung)

  • Polysomnographie

  • Objektivierung des Aktivitätsgrades im Alltag: Aktigraphie, Pedometrie, Symptomtagebuch)

  • Neuropsychologische Evaluation

  • Erweiterte Hormonprofile

  • Allergologische Abklärungen

  • Bildgebung des Kopfes

  • Screening nach denkbaren Autoimmunkrankheiten

 

 

Behandlung

Werden ME/CFS und Begleiterkrankungen einmal erfasst, besteht das weitere Vorgehen vorwiegend aus Behandlung der erfassten Ko-Morbiditäten und allgemein-unterstützenden Massnahmen im Rahmen der üblichen Versorgung.

Die sonst bei den meisten Erkrankung intuitiv eingeleiteten, körperlichen Rekonditionierungsmassnahmen sollten gemäss unserem jetzigen Verständnis vermieden werden. In keiner der bisherigen Studien führte körperliches Training zu einer Wiedererlangung der einmal verlorenen Arbeitsfähigkeit, einer gravierenden Besserung der Beschwerden oder deutlicher Zunahme der Funktionalität im Alltag. Die rekonditionierenden Massnahmen wurden auch bei den schwergradig ME/CFS-Betroffenen nie getestet. Die leicht- bis mässiggradigen Betroffenen berichten auch langfristig eher über Verschlechterung ihres Zustandes infolge solcher Massnahmen und initiierten viele politischen Aktionen, um das Dogma der Rekonditionierung bei ME/CFS abzuschaffen.  

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Da es sich bei ME/CFS um keine psychiatrische oder psychosomatische Erkrankung handelt, bringen die psychodynamischen Massnahmen wie Psychoanalyse oder kognitive behaviorale Therapie keine Heilung mit sich – die Studienlage ist analog wie zu derjenigen bei körperlichen Rekonditionierungen. Die psychodynamischen Massnahmen können unter Umständen aber zum besseren Selbstverständnis führen und somit den Umgang mit den Symptomen erleichtern. Bei Bereitschaft des Patienten können psychodynamische Verfahren durchaus versucht werden – vorzugsweise durch einen ME/CFS-versierten Therapeuten, der den Zustand des Betroffenen nicht als psychogen anzusehen versucht.

Insgesamt sollte man die grösstmögliche Symptomreduktion sowie die optimale Aktivität im Alltag anstreben unter Einbezug der individuellen Belastungsgrenzen und Symptomschwellen. Hier können, neben gewissen Medikamenten, z.B. Symptomtagebücher, Aktivitäts- und Rastplanung sowie adaptive Taktung (adaptive Pacing) Abhilfe schaffen. Energietagebücher, Ergotherapie (Haushalts-Erleichterungen einrichten) und Selbsthilfegruppen sollten ebenso empfohlen werden. Der psychisch belastenden Lebenssituation muss Raum gegeben werden und die Patienten entsprechend ihrem Befinden beraten und weitere Hilfe vermittelt werden.

Sollte die soziale und selbstversorgende Situation untragbar werden, müssen ordnungsgemäss die entsprechenden Abhilfen organisiert / beantragt werden (Spitex, Haushaltshilfe, Mahlzeitdienst, Hilfseinrichtungen für zuhause, Hilfslosenentschädigung, Invaliden-Rente, Hilfe aus der Nachbarschaft, mit Freiwilligen etc.).

 
 

Download und Links 

Hier werden die wichtigsten Artikel und Quellen aufgelistet, auf die wir uns in der Sektion "Für Ärzte" bezogen haben. Wenn es einen offiziell offenen Zugang zu einem Artikel gibt, steht er auch hier zum Herunterladen bereit, sonst besteht die entsprechende Verlinkung.

Quellen

 «Beyond Myalgic Encephalomyelitis / Chronic Fatigue Syndrome: Redefining an Illness.” Committee on the Diagnostic Criteria for ME/CFS
Board on the Health of Select Populations, Institute of Medicine
Washington (DC): National Academy Press (US): 2015 Feb; PMID: 25695122
PubMed (open access): 
https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/25695122 

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