p.s.Zeitung: Wer in der Schweiz an Long Covid erkrankt, wird finanziell ruiniert
Vor fünf Jahren traten die ersten Corona-Massnahmen in Kraft. Im Gespräch mit Gian Hedinger blickt Chantal Britt, Präsidentin der Patientenorganisation Long Covid Schweiz, zurück auf diese Zeit und erzählt, wieso ein Sticker manchmal wie eine Blume ist.
Von Gian Hedinger
Fünf Jahre ist es her, seit die ersten Corona-Massnahmen eingeführt wurden. Wie erinnern Sie sich an diese Zeit?
Ich kann mich noch genau erinnern. Ich hatte mich kurz zuvor angesteckt. Anfang März 2020 ging ich an ein Chorkonzert meiner Tochter und neben mir hat jemand gehustet. Wenige Tage später hatte ich dann Husten und Halsschmerzen. Am 16. März wollte ich meinen Laptop holen, um Homeoffice zu machen, und fuhr mit dem Velo zum Büro. Bei der Steigung ging plötzlich nichts mehr, ich musste absteigen und setzte mich auf den Boden, meine Kraft war weg, meine Lungen brannten, mein Herz raste, und mir war schwindlig. An diesem Tag bin ich zum letzten Mal Velo gefahren.
Dachten Sie da schon, dass das etwas Schwerwiegenderes sein könnte?
Nein, ich hatte keinerlei Bedenken. Ich war vorher nie krank, nie im Spital, bin Marathon gelaufen, es kam mir überhaupt nicht in den Sinn, dass es nicht besser werden könnte. Auch mein Arzt meinte, es werde schon gut kommen und ich solle mir keine Gedanken machen, also machte ich mir auch keine.
Wie lange dauerte es denn, bis Sie sich doch Gedanken gemacht haben?
Nach drei Monaten hatte ich die erste Krise. Ich dachte regelmässig, ich hätte einen Herzinfarkt, der Brustkorb fühlte sich eng an, mein Herz raste. Nach sechs Monaten dachte ich: Was, wenn das jetzt bleibt? Was, wenn ich chronisch krank bin? Aber ich war überzeugt, dass ich das wegbringen würde, durch Sport, gesunde Ernährung und eine positive Einstellung. Als ich dann meine Mutter in Südfrankreich besuchte, sassen meine Tochter, meine Mutter und ich in einem Café und wir waren alle komplett erschöpft. Da dachte ich, das kann kein Zufall sein, und ich wollte wissen, wie vielen Leuten es gleich geht. Ich gründete mit anderen Betroffenen die Facebook-Gruppe Long Covid Schweiz, informierte mich im Internet und begann, mich auf Twitter mit anderen auszutauschen.
Dabei heisst es doch immer, dass man Krankheiten nicht googeln sollte.
Ich weiss nicht, was mit mir passiert wäre, wenn ich das Internet nicht gehabt hätte. Ich habe aber auch nicht nur gegoogelt, sondern mich vor allem mit Expert:innen vernetzt. Dieser Austausch ist so wichtig, besonders bei einer Krankheit wie Long Covid, über die man nicht viel wusste, die man nicht sieht und für die es keine Biomarker gibt. Zu sehen, dass auf der ganzen Welt Leute wie wir flachlagen, nachdem sie Corona hatten, gab uns Sicherheit. Wir wussten, wir sind weder «lazy» noch «crazy», sondern krank. Also taten wir uns zusammen, nannten uns Long Covid Schweiz und bezeichneten uns als Patientenorganisation. Als niemand widersprach, blieben wir dabei. Das war wirklich ein demokratisierender und bestärkender Prozess. Ich musste nicht mehr aufs Bundesamt für Gesundheit (BAG) warten, und von dort kam sowieso nicht viel.
Sie finden, das BAG hat zu wenig gemacht?
Das BAG macht zu wenig und schiebt die Verantwortung auf die Kantone. In einem Bericht bezeichnete das BAG die Versorgung von Long Covid-Patient:innen als adäquat. Sie haben die Sprechstunden in der Schweiz gezählt und sie somit als ausreichend bezeichnet. Uns Betroffene haben sie nie gefragt, ob unsere Versorgung qualitativ angemessen ist. Beim Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) ist es noch absurder. Die Invalidenversicherung (IV) schrieb, sie werde durch Long Covid «nicht belastet». Das ist logisch, wenn man uns keine IV-Renten auszahlt. Man stellt die falschen Fragen, damit am Ende das gewollte Resultat auf dem Papier steht. Laut dem BSV sind 9 von 10 Menschen, die sich mit Long Covid für die IV anmelden, nicht arbeitsfähig. Aber nur gerade einmal 12 Prozent erhalten eine IV-Rente. Das heisst, es gibt viele Menschen, die von der IV gesund geschrieben werden, obwohl sie arbeitsunfähig sind. Es geht nicht nur um Long Covid, sondern um diese Art von Erkrankungen, die durch das System fallen. Das können auch chronische Schmerzen sein, die man nicht beweisen kann. Der Aufwand, um ernstgenommen und von Ärzt:innen diagnostiziert zu werden, ist enorm, und der Prozess extrem langwierig. Schliesslich wird Long Covid im Ausschlussverfahren diagnostiziert und das polydisziplinäre Verfahren ist aufwändig. Dann kommt nach mehreren Jahren ein IV-Gutachter und sagt, dass es ein psychisches Problem sei, und der ganze Prozess war umsonst. Sollen alle Ärzt:innen falsch beurteilt haben?
Warum wird Long Covid nicht ernst genommen?
Das liegt zum einen daran, dass Long Covid vor allem Frauen betrifft und Krankheiten, die mehrheitlich Frauen betreffen, schlechter erforscht sind und weniger ernst genommen werden. Dazu kommt, dass es in doppelter Hinsicht nicht sichtbar ist: Man sieht den Erkrankten Long Covid nicht an und die schweren Fälle sind auch unsichtbar. Wenn Menschen den ganzen Tag im Bett verbringen, sieht man sie nicht und kann sie ignorieren. Es ist die Art, wie wir mit gewissen chronischen Krankheiten umgehen. Sie werden stigmatisiert, ausgegrenzt, bagatellisiert und auf die Psyche geschoben. Bis zur Hälfte der Long Covid-Erkrankten erfüllt nach sechs Monaten die Kriterien von myalgischer Enzephalomyelitis (ME) oder chronischem Fatigue-Syndrom (CFS). Die WHO hat diese postinfektiösen Erkrankungen schon vor über 50 Jahren klassifiziert. Es gab in der Schweiz bereits vor Corona schätzungsweise 20 000 Betroffene, mit Covid sind es über 40 000 mehr. Aber obwohl es so viele Betroffene gibt, wurden nie Zahlen erhoben und ME wird im Medizinstudium nicht gelehrt. Die Dunkelziffern sind hoch, vor allem auch bei Kindern. Niemand will sich mit diesen komplexen Krankheitsbildern mit ihren komplizierten Namen auseinandersetzen. Wenn ich ehrlich bin, habe ich mich auch nicht dafür interessiert, bis es mich selbst betroffen hat.
Wie haben denn die Menschen, die vor der Pandemie schon ME/CFS hatten, darauf reagiert, dass mit Long Covid plötzlich mehr als doppelt so viele Menschen betroffen waren?
Das ist teilweise sicher schwierig. Die Schweizerische Gesellschaft für ME & CFS (SGME) und andere Akteure machen seit Jahren extrem viel Arbeit, und wir waren dann plötzlich da, mit 10 Mal mehr Betroffenen und mit einem Namen, den alle aussprechen können. Dazu war bei uns der Auslöser klar, und wir hatten durch die Pandemie auch eine gewisse Aufmerksamkeit. Nicht, dass wir es leicht haben, aber für ME-Betroffene gibt es keine Jahrestage, an denen man sie interviewt. Die SGME hat übrigens bereits im April 2020 vor einem möglichen Zusammenhang von ME und Corona gewarnt. Von den anderen Sars-Viren war auch schon bekannt, dass sie zu ME führen können. Aber für solche Anliegen eine Öffentlichkeit zu schaffen, ist enorm schwierig. Viele Betroffene sind nicht in der Lage, eine Stunde lang am Stück zu sprechen, geschweige denn auf eine Demonstration zu gehen. Darum ist es mir so wichtig, darauf aufmerksam zu machen.
Apropos Demonstrationen: Während Corona gab es zum Teil grosse Demonstrationen gegen die Massnahmen. Wie haben Sie das wahrgenommen?
Ich wohne in Bern und ging auf dem Heimweg von der Arbeit immer über den Bundesplatz. Die Demonstrationen dort waren für mich immer surreal. Ich beschäftigte mich in meiner gesamten Freizeit mit Menschen, die schwer erkrankt sind und deren Leben sich mit Corona grundlegend verändert hat. Viele von ihnen konnten nicht einmal mehr das Haus verlassen, und dann stehen da teilweise Leute, die über die Existenz des Virus diskutieren wollen?
Gibt es Therapien oder Medikamente, die bei Long Covid oder auch ME/CFS wirken?
In der Schweiz gibt es Sprechstunden und eine Handvoll Ärzt:innen, die wirklich einen super Job machen. Die Wartelisten für diese Sprechstunden sind jedoch lang und viele haben einen Aufnahmestopp. Eine heilende Behandlung gibt es nicht, aber gewisse Symptome kann man lindern. In Deutschland und Österreich werden Off-Label-Therapien verschrieben, die eigentlich für andere Krankheiten entwickelt wurden. Diese werden aber hier nicht von der Krankenkasse übernommen, was dazu führt, dass Menschen in der Schweiz ein Crowdfunding machen müssen, um sie sich zu leisten. Das kann nicht sein. Wer in der Schweiz an Long Covid erkrankt, wird finanziell ruiniert. Erwachsene müssen zurück zu ihren betagten Eltern ziehen, weil sie nicht mehr arbeiten können und die IV keine Rente zahlt. Sie müssen von ihren Angehörigen gepflegt werden. Viele haben am Ende noch wenige hundert Franken pro Monat, wovon sie knapp die Prämie für die Krankenkasse bezahlen können, die nicht einmal die Therapien bezahlt, die sie brauchen. Viele melden sich bei Sterbehilfeorganisationen wie Exit an, weil sie keine Perspektive mehr sehen. Sie wollen zwar leben und behandelt werden, aber es hilft ihnen ja niemand. Nicht einmal die Unispitäler behandeln uns medikamentös. Ich dachte immer, der Auftrag eines Unispitals sei, Erkrankungen zu erforschen und die Versorgung nach dem neuesten Stand dieser Forschung zu gewährleisten. Das passiert bei uns einfach nicht.
Sie setzen sich mit extrem viel Aufwand für die Anliegen von Long Covid-Betroffenen ein. Was ist ihr Ziel?
Im Moment wünsche ich mir, dass die Politik das Problem sieht und anerkennt. Aktuell ist eine Motion im Nationalrat hängig, die eine nationale Strategie im Umgang mit Long Covid, ME/CFS und PostVac fordert. Das wäre ein wichtiger erster Schritt. Langfristig hoffe ich, dass wir mit den Sozialversicherungen eine Lösung erarbeiten und nicht mehr alleine gelassen werden.
Heute Morgen habe ich an einer Ampel einen Sticker gesehen, auf dem stand: «Long Covid isch real. D Pandemie isch für eus nonig verbi. Mir sind immer no krank. Vergessed eus nöd.»
Ich freue mich wahnsinnig über jeden solchen Sticker. Für uns ist die Pandemie definitiv nicht vorbei. Wir beschäftigen uns mit Schicksalen von Menschen, die schwer krank sind, und wir wissen, dass 5 Prozent der Bevölkerung von Long Covid betroffen sind. Wenn ich durch die Stadt gehe, sehe ich auch, dass 95 Prozent eben nicht betroffen sind. Für euch geht das Leben weiter. Viele wollen nichts mehr von Covid hören, und ich verstehe das. So ein Sticker ist für mich, als hätte jemand Guerilla Gardening gemacht und eine Blume gepflanzt, die mir zeigt, dass ich nicht alleine bin.